M. Clauss u.a. (Hrsg.): Akustische Dimensionen des Mittelalters

Cover
Titel
Akustische Dimensionen des Mittelalters.


Herausgeber
Clauss, Martin; Mierke, Gesine
Reihe
Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Samp, Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH)

Während die Zuwendung der beiden Herausgeber:innen Martin Clauss und Gesine Mierke zu den „Lautsphären des Mittelalters“ 20161 noch ein Novum in der deutschsprachigen Mediävistik war, hat sich das Nachdenken über die „akustischen Dimensionen des Mittelalters“ mittlerweile etabliert. Publikationen, Veranstaltungen und Projekte2 zum Thema bestätigen mit jeweils wechselnder Perspektive die Grundannahme des Bandes: „Das Akustische durchdrang alle Bereiche mittelalterlicher Gesellschaften, Kulturen und Künste“ (S. 2). Jener verfolgt die „akustischen Dimensionen“ – sämtliche lautlichen Phänomene – in ihrer (multi-)medialen Konstruiertheit wie Funktionalität, um die Aufmerksamkeit für den Rezeptionscharakter des Hörens und dessen wissensaneignende Funktionen zu schärfen. Angesichts der Verschiedenartigkeit des Quellenmaterials, so heißt es in der methodisch reflektierten Einleitung, sei dies nur auf interdisziplinärem Wege möglich; entsprechend vereint der Band Beiträge aus der mediävistischen Geschichtswissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Romanistik sowie Theologie.

Tina Terrahe und Daniela Wagner verbinden germanistische und kunstgeschichtliche Perspektiven in der „Frage nach der Visualisierung und der medialen Vermittlung“ (S. 6) des Klangs des Olifants in den Rolandsliedern (Chanson de Roland, Rolandslied, Strickers Karl der Große). Am Beispiel kaiserlichen Schweigens, des Einsatzes von Klang als Mittel der Kriegsführung und des Olifants „als multifunktionales Klangobjekt“ (S. 13) zeichnen sie die spezifische Nutzbarmachung entsprechender Lautsphären nach; das Akustische erscheine als bewusst reflektierte Kategorie mittelalterlichen Erzählens. Dessen Visualisierung (im Codex VadSlg. Ms. 302) wiederum erprobe „verschiedene bildkünstlerische Mittel“ (S. 44), die auf die Wirkmacht und Sichtbarkeit von Klang zielten und Vorstellungen von Klang als konstitutiv für Raum und Beziehungen erscheinen ließen. Oliver Landolt widmet sich dem bisher ebenfalls noch kaum erforschten Aspekt des Lärms bzw. Schalls im Kontext der eidgenössischen Kriegsführung. Das Aufkommen der Feuerwaffen habe deren Klangstruktur stark verändert, eine artilleristische Lautsphäre sei aber literarisch nur selten fassbar. Lärm und Stille seien aufgrund ihrer psychologischen Wirksamkeit Macht demonstrierend oder provozierend als taktisches Mittel eingesetzt worden, verschiedenste akustische (Alarm-)Signale hätten vor allem kommunikative Funktion gehabt; daneben sei die Kriegsmusik wichtiges Medium für Propaganda und Erinnerung gewesen.

Ralf Lützelschwab fragt nach Annäherungsmöglichkeiten an den mittelalterlichen Orgelklang, die angesichts symbolischer Aufladung und des breiten Bedeutungsspektrum des Begriffs organum erschwert seien. Die „frühe[n] Stimmen“ (S. 71) von Wulfstan, Ael-red of Rievaulx und Baudri de Bourgueil unterstrichen die große Rolle der Orgelmusik (im liturgischen Raum), die jedoch eher symbolisch-allegorischer Natur sei. Rückschlüsse auf Verwendungsorte und -zwecke oder reale Klangerlebnisse ließen jene Texte, ebenso wie erhaltene Orgeln oder technische Handreichungen, nicht zu. Historio- oder Hagiographie wiederum verwiesen primär auf die Bedeutung der Orgel als Medium „soziale[r] Kohäsion“ und Mittel christlicher Verkündigung, ihr Klang werde „als Mittel für akustisches Erleben bzw. Durchleben göttlicher Harmonie“ (S. 78, 81) charakterisiert. Margret Scharrer thematisiert die bisher nur am Rande betrachtete „klangliche Inszenierung des herzoglichen Körpers“ (S. 92) in Burgund um 1400. Auf Basis eines beeindruckenden Spektrums an Zeugnissen (Festbeschreibungen, Kammerrechnungen, bildliche Zeugnisse, Inventare, Rechnungsbücher) charakterisiert sie Glöckchen, Glocken und Schellen als zentralen Bestandteil höfischer Anlässe. Klingende Applikationen fanden sich als Accessoires an Kleidung und Schmuckstücken der burgundischen Valois, an der Kleidung von Tänzern und bereicherten den adligen Geschenkeverkehr. Musiker vermittelten, indem man sie oder ihre Instrumente mit Herrschaftszeichen versah, den Herrschaftsanspruch klanglich nach außen. Ebenso trügen Schmuckstücke und Kleidung mit musikalisch-klanglichen Bezügen auf symbolische Weise zur akustischen Inszenierung des herrscherlichen Körpers bei, der so „in all seiner Komplexität raumgreifend [und] als multimediales Spektakel und Ereignis erlebbar“ (S. 106) werde.

Den in der Kunstgeschichte kaum beachteten audiovisuellen Dimensionen ausgewählter Kanzeln des nordalpinen Raumes wendet sich Joanna Olchawa zu. Diese seien „explizit in das Predigtgeschehen involviert“ (S. 113) gewesen, das wesentlich auf Stimme respektive Intonation, Lautstärke und Rhythmus basiere und (visuell) durch Gestik und Objekte, hier passenderweise als „Requisiten“ bezeichnet, akzentuiert werden konnte. Um Aufmerksamkeit zu generieren, sei das Geschehen bewusst zu einem „audiovisuelle[n] Spektakel“ (S. 136) ausgestaltet worden, in dem Kanzeln unterstützende bzw. didaktische Funktion zugekommen sei. Entsprechende „Semantiken“ zeigt Olchawa etymologisch wie exegetisch, ikonographisch wie emblematisch auf. Das Auditorium wiederum erzeugte mit Beifall, Geschrei und anderen Reaktionen eine eigene klangliche Dimension. Wirkungen, Bedeutungen und Grenzen der Stimme als Medium bespricht Boris Gübele. Er nimmt sich des hagiographischen Schrifttums an, das zwar keinen Reichtum an stimmlichen Beschreibungen biete, aber die Heiligen „bis zu einem gewissen Grad als Oratoren“ (S. 146) darstelle. Gübele verfolgt das Wirken Cuthberts von Lindisfarne, Bonifatius’, Willibrords, Liutgers, Lebuins und Adalberts von Prag, die in den Viten als leise und demütig in „Klangfeindschaft“ (S. 161) zu ihrer lauten und daher bedrohlich wirkenden Umwelt dargestellt würden, während das Publikum oft diszipliniert werden müsse. Ähnliches zeige auch der vergleichende Blick auf die Lautsphäre des byzantinischen Hippodroms. Roberto Ubbidiente liest Dantes Inferno „durch die Ohren“ und erweist für die erste Cantica das Akustische als „aussagekräftig für das Textverständnis“ (S. 170). So folgere die Thematik – Ausweglosigkeit angesichts einer ewig unzulänglichen Erlösung – eben auch (und angelehnt an Vergil) die Transferierung vom Visuellen ins Akustische, um die Gefühlslage des Ich-Erzählers zu reflektieren. Aufbauend auf einer „Echographie“ der Hölle kennzeichnet er (einer „wirklichkeitsgetreuen Plausibilität“, S. 180, entbehrende) Raumakustik wie Produktion von Sprachlauten als handlungs- und interpretationsrelevant: Die Stimme werde „zum wichtigsten akustischen Träger in Dantes Hölle“ (S. 178) und trage attributiv zur moralischen Profilierung der Figuren bei.

Die Bedeutung des Schweigens im Christentum, insbesondere in der monastischen Frömmigkeit ist unstrittig, Andreas Zecherle legt darauf aufbauend eine „Theorie des Schweigens und der Stille“ in der Mystik Johannes Taulers vor. Tauler empfehle nachdrücklich das Schweigen im Sinne des Nicht-Redens für den Weg zu Gott. Gleichsam fordere er zu einem inneren Schweigen, einem „Schweigen“ aller Seelenkräfte auf, das in Ergänzung und Weiterführung des äußeren Schweigens auf die Vereinigung mit Gott („Gotteslob im Schweigen“, S. 194) ziele, indem es Raum für Gottes Wirken im Menschen schaffe. Als Basis der Schweige-Theorie Taulers erfasst Zecherle eine intensive Eckhart-Rezeption, zudem neuplatonische, biblische, monastische und mystische Begründungszusammenhänge wie akustische Alltagserfahrungen.

Mit Kürenbergers Zinnenwechsel sowie Gerberts de Montreuil Tristan Menestrel gerät bei Stefan Abel höfische Literatur in den Blick, die er als Beispiele für die medial unterschiedlich realisierte „Übermittlung des ,unerhört‘ zu Gehör gebrachten Privaten“ (S. 197) untersucht. Letzteres stelle in der höfischen Öffentlichkeit ein stilles Skandalon, eine „auditive Transgression“ (S. 197) und als solche(s) ein literarisches Motiv dar: Die intime Kommunikation zwischen Dame und Ritter wie auch zwischen Tristan und Isolde bleibe für das intradiegetische Publikum teils unsichtbar, teils auch unhörbar bzw. nur für die beteiligten Akteure mit entsprechendem Hörwissen verständlich. Die daher mitzudenkende „penetrante Innerlichkeit“ (S. 211) des Hörerlebnisses steigere das (auditive) Skandalon zusätzlich. Als „eine Art Probebohrung“ (S. 238) versteht Christoph Schanze seine Annäherung an den Wortklang bzw. die Klangästhetik der Minnelyrik Gottfrieds von Neifen. Obwohl ein durchaus bekanntes Objekt der Forschung, sei erst jüngst deren ästhetisch-poetische Neubewertung erfolgt, die Schanze mittels der Untersuchung der auffälligen Klangform (von Lied III) als „Medium der Sinnvermittlung“ (S. 226) weiterführt: Die mit der inhaltlich vermittelten Klagehaltung des Sängers konkurrierende massive Präsenz des fröude-Wortklangs diene „einer quasi-sprachmagischen Evokation der Freude“ (S. 231), erhalte also medialen Status und etabliere (wie auch in Lied VI) eine originäre Bedeutungsebene. Die von Schanze anschaulich vorgeführte Aufmerksamkeitsverschiebung macht die unmittelbare Evidenz des Wortklangs, dessen semantische Funktion deutlich.

Den überwiegend lesenswerten und teils bebilderten Beiträgen gelingt eine Erweiterung der Lautsphären des Mittelalters, sie schärfen das Bewusstsein für deren unbestreitbar zentrale Geltung in der mittelalterlichen Kultur, die in akustischer bzw. auditiver Hinsicht noch lange nicht erschlossen ist. Der Band hält zudem, was er einleitend verspricht, nämlich ein vorzeigbares Beispiel für disziplinenübergreifende Zusammenarbeit und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der Betrachtung akustischer Dimensionen des Mittelalters zu sein, die sich einmal mehr als (multi-)medial konstruiert erweisen; für eine methodisch reflektierte Analyse ihrer Bedeutung und Funktion bietet der Band wertvolle Grundlagen und Anknüpfungspunkte.

Anmerkungen:
1 Martin Clauss / Gesine Mierke / Antonio Krüger (Hrsg.), Lautsphären des Mittelalters. Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 89), Wien 2020.
2 Jüngst etwa Nikolas Jaspert / Harald Müller (Hrsg.), Klangräume des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 94), Ostfildern 2023; DFG-Netzwerk „Lautsphären des Mittelalters“, https://www.tu-chemnitz.de/phil/iesg/professuren/gdma/dfg-netzwerk.php (05.09.2023); DFG-Projekte „Der laute Krieg und die Laute des Krieges. Belliphonie im Mittelalter“ (TU Chemnitz), https://www.tu-chemnitz.de/phil/iesg/professuren/gdma/dfg-netzwerk_belliphonie.php (05.09.2023) und „Lärm vor Dezibel. Annäherung an eine Semantik illegitimen Klangs im Spätmittelalter“ (RWTH Aachen University), https://www.ma.histinst.rwth-aachen.de/cms/HISTINST-MA/Forschung/Projekte/~vreuc/DFG-Projekt-Laerm-vor-Dezibel/ (05.09.2023).

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